Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Christiane Lehmann,
DIE BIBER KOMMEN … das klingt wie eine Drohung! Oder sind sie etwa schon da?
Wenn ja, was tun? Reagieren, schützen, fliehen?
Sind diese beiden Biber echt? Wenn ja, wie kommen sie auf diese Beton-Sockel,
warum rühren sie sich nicht?
Christiane Lehmann hatte ich bislang nicht als figurative Künstlerin gespeichert,
sondern als LandArt-Pionierin hier im Ried, auch als konzeptuelle Künstlerin hier und
andernorts, deren temporäre Installationen wie die „national bags“ in Berlin Mitte im
Jahr 2009 oder die Arbeit „Up to generic bags“ in 2014 im Park des Museums Villa
Rot durchaus Furore machten … und nun dies!
Die Wilhelmsdorfer Künstlerin bedient sich für dieses bildhauerische Werk des
klassischen Trompe-l’œil- Effekts aus der Malerei, das heißt, sie nimmt für einen
Moment eine Augentäuschung vor und suggeriert mit ihrem Kunstwerk bewusst
Realität. Sie will uns täuschen und locken mit diesen beiden Tier-Plastiken. Und sie
will uns vor allem ein Tier nahebringen, das von uns Menschen willentlich und
nachhaltig ausgerottet war wegen seiner zerstörerischen Chaos-Untaten und das
nun Kraft Gesetz geschützt ist und von den Tier- und Naturschützern als einer
unserer bedeutenden Landschaftsgestalter gilt.
Der Biber bringt unser lineares System durcheinander, er ist das größte Nagetier
Europas, kann bis zu 30 kg schwer werden, lebt monogam in Kleinfamilien, er ist ein
Vegetarier, bewohnt Burgen und baut Dämme. Das klingt zunächst harmlos und
bescheiden.
Aber der Biber ist chronisch hungrig und holzt in der sog. Sanduhr-Technik durchaus
in einer Nacht einen 50 cm dicken Stamm ab. Auch muss dieses semiaquatische
Säugetier keinen Winterschlaf halten, denn sein dichtes Haarkleid schützt ihn vor
Kälte.
Biber sind scheu und leise, sie meiden den Menschen und finden ihre Nischen in der
Dämmerung und in der Nacht. Unweit von hier lebt eine echte Biberfamilie,
zusammen mit Christiane Lehmann wanderten wir auf den Spuren dieser Tiere,
bevor wir uns ins Atelier zu den artifiziellen Bibern begaben.
Künstliche Tiere in der echten Landschaft, echte Tiere in der künstlich geformten
Landschaft – was ist Natur, was ist Kunst, wie treten die beiden am besten in Dialog,
wie gehen wir mit beiden um? Fragen wie diese beschäftigen die Künstlerin und ihre
Mitstreiterinnen und Mitstreiter seit langem (und natürlich auch deren Gegner).
Was hier im Jahr 2000 als LandArt-Pfad begann und mit dem sog. Nils Udo-Nest
„Gesang der Geister über den Wassern“ in 2004 einen echten Höhepunkt erlebte, ist
heute das Fundament, auf dem das Kunstprojekt ‚parallele landschaft‘ basiert.
Parallel zum alten LandArt-Pfad wird der neue Weg auf der anderen Riedseite weiter
entwickelt.
Künstlerinnen und Künstler greifen ästhetisch in die Natur ein, ohne diese zu
unterdrücken oder sie in ein „künstlerisches-künstliches System“ zu zwingen. Nein,
Kunst und Natur sollen sich parallel entwickeln, miteinander wachsen und zerfallen,
miteinander heiße Sommer und kalte Winter, Regenperioden und Gewitter
überdauern. Wir Menschen und die im Ried lebenden Tiere sind in diesem Projekt
„Gäste“, wir können staunen und / oder auch die Kunst okkupieren bzw. begehen.
Hier im Ried, wo diese Wiesen den Künstlerinnen und Künstlern für das Kunstprojekt
‚parallele landschaft‘ von der Gemeinde Wilhelmsdorf zur Verfügung gestellt wurden,
werden wir Zeuge eines Zusammentreffens, das keinen Status Quo kennt. Wenn wir
nächste Woche kommen, sammeln wir andere Eindrücke als heute, im Winter
andere als im Sommer. Im Mittelpunkt dieser Arbeiten steht unser eigener Umgang
mit der Natur, welche wir in unseren Gärten domestizieren und in unseren
Balkonkästen gerne zur Schau stellen.
Im repräsentativen Außenbereich treffen Kunst und Natur in der Regel in
Skulpturengärten aufeinander, wo die Natur gerne einen idealtypischen Rahmen
bildet für das Kunstwerk aus Stein, Bronze, Holz o.ä.
Anders ist es hier, denn alle Kunstwerke haben einen Subtext im Gepäck, sie stehen
nicht zufälligerweise hier im Ried, sondern sie wurden genau für diesen Ort
geschaffen. Diese Kunst ist also keine simple ästhetische Bereicherung der Natur,
sondern ein formaler Impulsgeber für ethische Fragen und Antworten und folglich für
das Infragestellen unserer eigenen Ansichten und Meinungen „in situ“, also vor Ort.
Fragen, die das Ried aufwirft, sind andere Fragen als die, welche im Stadtgarten in
Weingarten oder am Ufer des Bodensees aufkommen.
Das Ried ist ein geschütztes Biotop der besonderen Art.
Nun steht im Ried ein Denkmal. Passt das?
„Ja“, sagt die Künstlerin, denn laut Christiane Lehmann ist diese bewusste Erhöhung
der Tiere auf Sockeln ein klares Bekenntnis zur geglückten Rückkehr der Biber, vor
allem vor dem Kontext, dass täglich ca. 140 Tierarten auf dieser Erde aussterben.
Die beiden tönernen Biber trotzen allen Unkenrufen. Sie wurden handgeformt, sie
sind von einer Künstlerin geschaffen, sie entstanden im geschützten Atelier und
sollen nun ihre öffentliche Signalwirkung entfalten dürfen.
Zunächst standen hier im Ried die beiden „Sockel“, aus Kanalisationsrohren
gestapelte Betonringe, die – im krassen Gegensatz zu den Tierplastiken – aus der
maschinell gefertigten Massenproduktion stammen. Ohne Tiere waren diese Zylinder
bedeutungslos, erst jetzt dienen sie als Sockel.
Die beiden Biber wiederum entstanden in mühsamer Handarbeit im Atelier am
Ortsrand von Wilhelmsdorf. Bei meinem Besuch vor einigen Wochen standen diese
beiden Plastiken fast wie zwei Verirrte inmitten einer Welt der Zeichnungen,
Malereien, Latex-Installationen und Kunststoff-Materialien im Mikrokosmos der
Installations-Künstlerin Christiane Lehmann. Die beiden Biber wirkten zunächst wie
Fremdkörper in diesem kunstschwangeren Raum. „Nein, ich breche mir keinen
Zacken aus der Krone“, meinte die Künstlerin zu mir, schließlich sei die Arbeit aus
der Situation entstanden, sie widme sich einem guten und wichtigen Thema und „ich
steh dazu“, so Christiane Lehmann. Denn nicht der konzeptuelle Ansatz stehe hier
im Mittelpunkt des Interesses, sondern der „aufklärerische“.
In unseren gemeinsamen Stunden im Ried und Atelier war es vor allem der Begriff
der „Energie“, den die Künstlerin mehrfach verwendete. Und in der Tat sind es nicht
nur die Leidenschaft und ästhetische Aspekte, die Christiane Lehmann umtreiben
und beschäftigen, sondern es ist die Energie, die sie zum Schaffen drängt, die sie
Dialogpartner und Mitstreiter suchen lässt. Mit Energie stößt sie neue Initiativen an
und mit großer Energie – will sagen Muskelkraft – bewegte sie auch ihre mit
Skulpturenton gefüllten Säcke ins Atelier, transportierte die Rohplastiken in den
Brennofen und fixierte die Arbeiten schließlich an ihrem Bestimmungsort, dem Ried.
Mit ihrer positiven Energie schaffte die Künstlerin es auch, Sponsoren zu finden, wie
den Landkreis Ravensburg, die Gemeinde und den Kunstverein Wilhelmsdorf und
den Bau- und Sparverein Ravensburg eG.
Nun sitzen also diese beiden Biber als lebensgroße Individuen auf ihren Sockeln und
nehmen einen Denkmal-Charakter ein. Die Denkmals-Kultur ist eine ernste Kultur.
Denkmäler erinnern an Kriege und Helden, sie stilisieren Taten und erinnern oft an
längst vergangene – mehr oder weniger - ruhmreiche Zeiten.
Lehmanns Biber scheinen sich ihrer Helden-Pose nicht wirklich bewusst zu sein. Sie
sitzen mit rundem Rücken, einander leicht zugewandt und auf ihre kräftige
Schwanzflosse gestützt (welche im Übrigen dank eines Papstedikts offiziell als
Fischflosse anerkannt wurde und dazu führte, dass Biberfleisch als Fastenspeise
gelten durfte). Sie wirken weder gefräßig noch aggressiv, sondern bekommen – dank
ihrer geschlossenen und zum Greifen ausgelegten Vorderfüße – fast menschliche
Züge. Diese von der Künstlerin bewusst gewählte Pose hat durchaus einen
humorvollen Ansatz. „Humor ist eine Waffe“, hat der österreichische
Gegenwartskünstler Erwin Wurm einmal gesagt. Doch versteht er sich nicht als
Humorist, sondern er setzt seinen Witz ein, um den „Alltag aus einer anderen
Perspektive“ zu zeigen.
Genau diesen Perspektivenwechsel sucht auch Christiane Lehmann in ihrer Arbeit.
Nicht wir Menschen haben hier den Überblick, sondern zwei tönerne Biber
dominieren die Szene. Nicht wir Menschen stehen im Mittelpunkt, sondern zwei
Tiere. Nicht uns gehört der Sockel, sondern den Tieren, während wir weiterhin durch
den Riedschlamm waten. Wir sind geerdet und die Tiere erhöht.
Stehen wir gar vor einer dreidimensionalen Fabel? In der Literatur steht das
Fabeltier in der Bildebene für eine übertragene Bedeutung. Fabeln bringen uns
Leser zum Nachdenken und zum Erkennen eines richtigen Lebens. Das bildhafte
Tier eröffnet uns Menschen also eine Sachebene und weist uns entsprechende
Handlungsmuster zu.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich diese Rede also
abschließen mit der Frage nach der Moral dieses fabelhaften Denkmals „Die Biber
kommen“!
Rede zur Übergabe von Christiane Lehmanns Kunstinstallation „Die Biber
kommen“, am 13. Mai 2016 in Wilhelmsdorf, Andrea Dreher M.A.
DIE BIBER KOMMEN