Sehr unterschiedliche Objekte können wir in dieser Ausstellung sehen. Zeichnerisches,
Malerisches, Plastisches, Objekthaftes, Installatives. Und trotzdem. Die Arbeiten stammen
alle von ein und derselben Person. Von Christiane Lehmann, die in den letzten Tagen richtig
viel zu tun hatte: Vergangenen Donnerstag Ausstellungseröffnung in Donaueschingen,
gestern in Sigmaringen und heute hier in Ravensburg.
Auf lange Sicht kümmert sie sich auch noch um ihr Land Art-Projekt im Pfrunger-Burgweiler
Ried.
Jetzt aber geht es um hier!
Gleich hier flankieren den Eingangsbereich zwei Zeichnungen, ›Feld I und Feld II‹,
ausgeführt mit Graphit, Tusche und stark lasierenden Acrylfarben. Waben-, Zellen-,
Schaumartiges ist zu sehen.
Im Inneren der Ausstellungskoje gibt es weitere, kleinformatigere Zeichnungen in anderen
Techniken, teils auf Millimeterpapier, teils als Collagen auf liniertem Papier
(Biomechanoide). Meist trifft Konstruktives auf Organisches.
Dann gibt es noch drei Gemälde (›Produktion I-III‹) mit wasserlöslichen Farben, Kreide
Filzstift, Lack und teils mit Latex auf belgischem Leinen. Schwer zu entschlüsselnde
Bildsprache zwischen kryptischen Zeichen, technoiden Formen und Organigrammartigem.
Das muss einfach neugierig machen.
Weiter vier schwarzlackierte Plastiken. Die drei vasenähnlichen aus gebranntem Ton. Die
eine aus Gips fällt in dieser Reihung optisch etwas aus dem Rahmen. Vielleicht stellt sie eine
von vielen archaischen Fruchtbarkeitsgöttinnen dar, vielleicht die vielbrüstige griechische
Göttin Artemis, oder die indische Kali. Genaueres weiß die Künstlerin.
An einer der Innenseiten der Koje hängen zwei Objekte, die aussehen, als seien sie
Faserformteile, die als Verpackungsmodule dienen könnten. Allerdings handelt es sich hier
einmal um ein mit Paperclay (also Papierton) abgenommenes und gebranntes, technisches
Teil und zum anderen um ein frei von Hand nachmodelliertes. ›Idole-Paar‹ nennt die
Künstlerin ihren Technik-Natur-Switch. Maschinelle Herstellung ›konkurriert‹ mit
Handwerklichkeit.
Weiter findet man ein turmartiges Objekt mit acht aufeinander gestellten, ziegelartigen
›Modulen‹ aus gebranntem Ton. Das Ganze ist sehr fragil und zu jedem Zeitpunkt
einsturzgefährdet. Deshalb auch das auf dem Boden angezeichnete Abstandsquadrat.
›Habitat‹ nennt die Künstlerin dieses Container-Objekt, eine Art Biotop für fiktive Bewohner.
Diesem Ziegelturm gegenüber steht eine Acrylglasbox, die an einen laborähnlichen Aufbau
erinnert. Die sog. ›Salatmaschine‹.
Zu sehen sind vier Romanesco-Gewächse (eine Variante des Blumenkohls). Die weißen mit
Porzellanerde (Keramik) abgenommen, die eine rote mit Latex. Gläserne Laborgeräte und ein,
die Außen- und Innenwelt verbindender, durchsichtiger Schlauch sind zu sehen. An den
Glaswänden platinenartige Zeichnungen. Der Romanesco gehört zu jenen Naturprodukten,
die auf ganz organische Weise Anschauungsmaterial zur fraktalen Geometrie und dem
Phänomen der Selbstähnlichkeit bieten: Wer schon einmal vom Sierpinski-Dreieck oder der
Mandelbrotmenge gehört hat, weiß was gemeint ist. Hier alles in natura. Sogar die FibonacciReihe.
Fehlt noch ein Objekt an einer der Hinterwände der Koje. Auf einem Absatz steht ein Krug,
darüber hängt ein amorphes, organisches Gebilde. Beide Teile sind aus Naturkautschuk und
könnten als milchaufnehmendes Gefäß und milchspendendes Euter das Bild zu einer
Produktionsgeschichte der ›Tränen der Bäume‹ erzählen, so die Übersetzung des Wortes
›Kautschuk‹.
Sie werden es schon längst gemerkt haben. Christiane Lehmann geht es nicht so sehr um eine
bestimmte Kunstgattung, oder um ein bestimmtes Material oder etwa um
Ausführungsqualitäten ›alter Schule‹. Sie ist nicht im eigentlichen Sinne Malerin, Zeichnerin,
Bildhauerin usw. Sie bedient sich eher dann der verschiedenen Techniken, wenn sie sie für
ihre künstlerischen Aussagen für geeignet hält.
Ja, und ihr geht es zunächst sogar um etwas Außerkünstlerisches. Ihr geht es um die
Erkenntnis, dass alles, was uns begegnet irgendwie miteinander zusammenhängen muss, also
miteinander zu tun hat, sich beeinflusst und auf unterschiedlichen Ebenen (chaostheoretisch)
wechselwirkt.
Konzentrierte Aufmerksamkeit und sorgfältige Wahrnehmung, Intuition und Schlüsse
ziehende Erkenntnis leiten die Künstlerin an, um einer Antwort auf einen großen
Fragenkomplex auf die Spur zu kommen:
Wo und wie finden die Übergänge von Naturhaftem und Menschgemachtem statt? Was hat
eine Wissenschafts- und Technikentwicklung im Laufe der Zeit mit der Natur gemacht? Und
was bewirkt eine aktuelle technische Tendenz, die sich wieder an die Natur anpassen will, ja,
sie sogar zu optimieren versucht, und gerade damit beginnt, immer mehr integrative
Techniken der sog. ›erweiterten Realitäten‹ zu entwickeln?
Siehe neuerdings etwa ›Google Glass‹ oder ›EyeTap‹!
Dann: Warum fliehen wir überhaupt den natürlichen Sphären und tradierten Kulturräumen
und eröffnen so gerne erweiterte oder virtuelle Realitäten?
Und: Was machen diese virtuellen Welten mit und aus uns, wenn ihnen der Stecker gezogen
wird?
Es wird wohl nicht mehr um die Entscheidung des Einzelnen für oder gegen Natur, für oder
gegen Technik gehen, die uns weiter bringt. Wir müssen uns vermehrt um die Schalt- und
Verbindungsstellen kümmern, sie zuerst als Übergänge erkennen und sie dann neu bewerten,
um versöhnlich mit Altem und Neuem umgehen zu können.
Wer sich den Übergängen zuwendet, muss sich ›Vorher‹ und ›Nachher‹ genau ansehen.
Nur am dynamischen Prozess – von einer naiven naturhaften Ursprünglichkeit ausgehend hin
zu einem technikabhängigen Zustand der modernen Zivilgesellschaften – kann man
signifikante Übergänge ablesen. Es sind dies dann immer sog. brisante, ja, kritische Zeiten,
für die seit gut 40 Jahren etwa der Begriff ›Paradigmenwechsel‹ von Thomas S. Kuhn
eingesetzt wird.
Mit einem Mal scheinen sich in solchen kritisch gewordenen Zeitfenstern die Wichtigkeiten
radikal verändert zu haben. Wissenschaft, Forschung und Technik verlassen ausgetretene
Entwicklungen, wechseln ihren Diskurs, weil sich plötzlich ein ganz neuer, völlig anderer
Weg auftut.
Ein solcher Wechsel zeichnet sich dadurch aus, dass er auch von einer Mehrheit der
Menschen als ›Quantensprung‹ empfunden werden kann. Ein Sprung also, der sich nicht mehr
aus der Logik seiner Vorgänger ableiten lässt, sondern am Anfang einer völlig neuen
Orientierungslogik steht.
So konkurrieren heute – makrohistorisch – gesehen die durch Technik und Kapital
zusammengehaltenen Zivilgesellschaften mit den Überresten archaisch organisierter Welten.
Die globale Anmaßungsformel heißt hier (immer noch): Technik und Fortschritt gegen Natur
und Bewahrung.
Solange solche Konkurrenzen einseitig dominant bleiben, können Übergänge, da
interessengeleitet, nur einem Diktat folgen, also ausschließlich in eine Richtung motiviert
sein. Gelänge es, aus solchen eindimensionalen Übergängen, eher Brücken abzuleiten, die wie
Synapsen ›Botenstoffe‹ beider Lager austauschen würden, hätten die technikdominanten
Gesellschaften die große Chance, sich anders und optimaler mit der Natur rückverbinden zu
können.
Archaik und Moderne müssen also keine Polaritäten bleiben. Aber solange sie dafür gehalten
werden, kann der moderne Mensch nicht erkennen, wie weit er sich von der Entwicklung der
reinen Werkzeuge wegentfernt hat hin zu einer Welt selbstreferenzieller Prothesen, die immer
mehr aktive Fähigkeiten ersetzen oder den Einzelnen mehr und mehr zum Ersatzteillager
machen. Zumal ein prothetischer Mensch irgendwann an den Punkt kommen muss, an dem er
sich dann fragt: Wer oder was bin ich (eigentlich) … ohne meine ›Prothesen‹?
Wer archaisches Leben mit dem modernen vergleichen will, muss sich also immer auch die
entscheidende Frage nach dem Unterschied von Werkzeug und Prothese stellen.
Werkzeug erweitert den gestalterischen Zugriffsradius des Menschen, macht vieles leichter,
effektiver.
Prothesen – seien es mechanische oder digitale – haben die Tendenz, die handwerklichen
Fähigkeiten des Menschen mehr und mehr zu ersetzen. So gesehen sind Prothesen das
Gegenteil von Handwerk. Am Schluss könnten wir uns sogar fragen: Braucht uns überhaupt
noch jemand auf dieser Erde, wenn die Eigenaktivität aufgrund eines umfassenden Supports
gegen null geht? …
An diesen kritischen Übergängen, an solchen synaptischen oder transitorischen Situationen,
ist Christiane Lehmann interessiert; also an jener Gemengelage von Natur-, Technik- und
Menschheitsgeschichte, an der es zunächst kein Zurück mehr zu geben scheint, aber doch
genügend hoffnungsleitende Utopie, sich das Andere, vielleicht Bessere, vorstellen zu
können. Risikofragen leben nun mal ausschließlich vom spielerischen Optimismus.
Abläufe einer westlichen Version der Anthropologie wären nur zum Teil einschätzbar, wenn
es nicht parallel dazu andere Entwicklungsgeschichten gäbe, welche nach anderen Vorgaben
und Prinzipien verlaufen sind und die zu ganz anderen Ergebnissen geführt haben.
Anthropologisch, ethnologisch und soziologisch sind sie uns zugänglich.
Aus den Erkenntnissen die bestmöglichen Schlüsse in Bezug auf die gesamte Menschheit zu
ziehen funktioniert bis heute jedoch nur auf theoretischer Ebene. Das aber immerhin.
Den Möglichkeiten, solche etwaigen Hintergründe in eine Bildsprache zu übertragen, spürt
Christiane Lehmann mit ihrer Kunst nach.
Im 2012 erschienenen Katalog ›Im Atem der Räume‹ schreibt sie: »Ausgehend von der Frage,
wie unsere Gesellschaft mit der Natur, Dingen und Menschen umgeht, interessierte mich die
Polarität zwischen unserer wissenschaftlich orientierten Geisteshaltung und der archaischer
Gesellschaften. […]
Meine Besuche bei indigenen Völkern, Samen, Turk-Mongolen und Hopi-Indianern hatten
mir Reste von Lebensformen gezeigt, die noch verwurzelt sind in Naturrhythmen und die in
ihren Ritualen das Geheimnis der Natur verehren. Dagegen wird in den westlichen
Zivilisationen die Natur immer mehr zu einem Lebenserhaltungssystem degradiert.«
Aus der Sicht der Moderne (mit dem Begriff ›Postmoderne‹, das wird immer deutlicher,
haben wir uns wohl ein Bein gestellt) –; aus der Sicht der ›heutigen‹ Moderne also gehört die
immer wieder als solche empfundene ›Überzivilisiertheit‹ schon selbst zu den
Zivilisationskrankheiten.
Mit dem treffenden Begriff der ›Zuvielisation‹ hat die Ausnahmepsychologin Ruth C. Cohn
den zu beschreibenden Zustand schon vor Jahrzehnten bestens getroffen.
Aber das Unbehagen an diesem Zustand des zivilisierten Zuviel, lässt viele wieder etwas
genauer und auch anders auf sog. indigene Sphären schauen. Eine Art romantische Rückkehr
zu den natürlichen Sachen selbst und ihrer unverfälscht und intakt geglaubten Harmonie.
Wer sich aber – wie Christiane Lehmann – romantik- und illusionsfrei den Erlebniswelten
archaisch-autonomer Systeme aussetzt, hat den Blick frei für Abgleich und genauere Sichtung
im eigenen Lager, also der eigenen Umgebungsrealität.
Eine der Regieanweisungen für eine solche Art der Sichtung heißt bei Christiane Lehmann:
›catch the code‹. Sie hat die Formel für diese Ausstellung gewählt, um zu zeigen, wie aus
ihren Sichtungen, Beobachtungen und Erkenntnissen, Brisanzen von archaischer und
moderner Lebensgestaltung deutlich werden können.
Wer genau hinschaut, sieht auch die bewusst angelegte Polarität in dieser Ausstellung.
In nichtgebundener Bildsprache begegnen sich hier Natur und Technik, Voodoo und
Psychologie, Magie und Rationalität, Laborsterilität und Monumentsinn, Idol und HitecZeichen.
Diese Bildpolarität, dieses Nebeneinander von Vorher und Nachher, fordert mit intelligent
und subtil eingelegtem Witz: ›catch the code‹! Knack’ den Code! ›Check‹ (endlich), was
Sache ist!
Komme der anthropologischen Schlüsselfrage auf die Spur! Du kannst sie – wenigsten zum
Teil schon – an der Qualität ihrer Übergänge erkennen.
Dr. Herbert Köhler (aica)
Kunst- und Kulturpublizist
catch the code