Die kleine Kirche San Guiseppe liegt ganz hinten und versteckt im gewaltigen
                Gebäudekomplex der ehemaligen Schokoladenfabrik Cima Norma in Torre. Über viele
                Jahrzehnte hinweg wurde in dem entlegenen Alpental Valle di Blenio gute Schweizer
                Schokolade produziert. Die Kirche war betriebseigen und wurde nach dem ersten Direktor aus
                der Familie Pagani und dessen Namenspatron Josef benannt. Die Belegschaft traf sich hier
                täglich zum Gebet für das Wohlergehen der Arbeiter und der Direktion. Heute ist das
                Kirchhaus nur über eine verwunschene Außentreppe im Hortensiengebüsch zu erreichen, und
                weitestgehend ihrer Innenausstattung beraubt, weiß getüncht und entweiht. Aber es besteht
                noch die Ausrichtung der Bänke, die Altarwand und in Fragmenten der Altaraufbau in
                gestanztem Messingblech. Im September 2o12 fand in der Fabrik das Symposion
                „espressivo“ statt, und es war gerade zu zwangsläufig, dass Christiane Lehmann San
                Guiseppe als einen besonderen Ort bemerkte und ihn gleich für sich und ihre Konzeption in
                Besitz nahm. Es galt ein Geheimnis zu finden, ohne dieses gesucht zu haben, und dann in es
                einzudringen, ohne es zu lüften.
                Gerade dieses Tessiner Tal hat einen speziellen Grad an Ausgesetztheit. Die Natur ist
                allgegenwärtig, die Menschen und die Dörfer haben sich vieles ihrer Ursprünglichkeit
                bewahrt und die Kultur, die Religion, der Umgang mit Gott und den Geistern scheint nur zum
                Teil von Katholizismus und Barock gegriffen zu sein. Es bleibt ein Wildes, ein Dasein im
                Ausgesetzten.
                Das alte Fabrikgelände war für Christiane Lehmann eine Material-Fundgrube. Sie sammelte
                alte Pralinenschachteln mit Goldkante, ungewöhnliche Devotionalien und Lederreste, um sie
                zusammen mit eigens mitgebrachten Dingen zu arrangieren. Dabei wählte sie ein
                Gestaltungsprinzip in den bestehenden Raum einzugreifen und ihn neu zu definieren, diesen
                aber nur zu ergänzen und ihn nicht vollständig auszuleeren. Das bewährte Brauchtum wurde
                auf seine Brauchbarkeit hin geprüft und manches christliche Motiv, zwar auf den Kopf
                gestellt, dabei aber auf seine Tatsächlichkeit, auf seine Aktualität hin befragt.
                Lehmann entwickelte Skulpturen für die Altarschranke, die Figural dastehen und in ihrer
                Dinghaftigkeit bestechen, aber dennoch undeutbar bleiben. Sie nehmen den Ort von
                Heiligenfiguren und ländlichen Voodoo-Puppen ein. Süffisant ist ihr Ausdruck durch die
                genieteten und geklebten Lederstücke in Rosa und Gold über Schaumstoff. Sie winden sich in
                den Windungen ihrer selbst.
                Das Hauptstück dieser Installation ist der dominante Altarschrank an der Stirnseite, den
                Lehmann mit einem störrischen Stück Leder einhüllt und zu einem Objekt in Rosa und Gold
                ummünzt. Das wirkt sowohl kitschig als auch grobschlächtig und wie eine Chorschranke, die
                zwar den Blick fesselt aber das Eigentliche verbergen will. Es entsteht ein luogo di vacuo, ein
                Ursprungsort, der alle hier versammelte Konzentration historischer Andacht geltend macht,
                ohne sie zu interpretieren oder gar zu bewerten.
                Von hier aus verteilen sich viele kleinere Arrangements an den Wänden entlang wie kleine
                Andachtsnischen. Zum Beispiel eine alte Holzkiste mit Latexhäuten von einer Landkarte.
                Ästhetisch sehr anrührend hängen Lappen der Erdteile wie zum Trocknen, wie am
                Geschirrtuchschrank, wie Erdhäute eines umfassenden Bewusstseins, das den Globus
                fragmentiert und bedenkt. Oder Fotos im Madonnenstil, mit einer Frau, die ebenfalls die Haut
                zur Schau stellt, irritierend wie eine Verletzbarkeit.
                In den Objekten wurden etliche Zitate aus Zeitungsartikeln, etwa über das Pop-Idol
                Madonna, eingearbeitet, die die formalen Daten ihrer Popularität darlegen. Das zeichnet eine
                groteske Note im Vergleichen von Vorbildern und der allgemeinen Wahrnehmung unter dem
                gleichem Namen der Mutter Gottes. Es gibt den skulpturalen Bildstöcken einen doppelten
                Boden und durchbricht den bewährten kirchlichen Rahmen.
                In der hinteren Ecke der Kapelle steht schließlich ein Andachtstisch. Wie bei einer sakralen
                Gebetsnische kann man hier Kerzen anzünden und damit kleine Seidenblätter in Schachteln
                beleuchten. Offensichtlich sind sie antike Zeugen von einem schon Gewesenen oder einem
                Noch-nicht-Sein. Sie verbreiten den Charme einer Ahnung und ein Ungeheuerliches. Fast wie
                der Umgang mit einem Spuk, eine Verdichtung im Namenlosen, oder die Dichtung über ein
                vergessenes, ein unbekanntes Motiv. Ein Anpirschen an den Schatz der Bedachtsamkeit.
                Dabei gibt es keinen Verweis auf ein kluges Argument im rationalen Wechselstreit des Für
                und Wider und gar des Zweifelns.
                So hat die gesamte Installation den Grundzug des Feinen und des Kostbaren. Die Künstlerin
                spielt mit dem Material, und führt Echtes und Imitiertes vor und thematisiert somit die
                Brüchigkeit des Scheinens. Der Schein der subkutan eindringt, oder der jederzeit in die
                Wirklichkeit durchbrechen will und dann ein Körper wird. Ein tanzender Körper, ein
                Nerventöter oder ein jubilate deo.
                andreas reichel, kölnstrasse 129, d - 53111 bonn
                bonn, den 21. november 2012
        
Innen ist Außen ist Innen
        
